Polen: Polnischer Oktober

Polen: Polnischer Oktober
Polen: Polnischer Oktober
 
Die Abrechnung mit dem Stalinismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU und der Tod des Parteichefs Bierut am 12. März 1956 stürzten die Polnische Vereinigte Arbeiter partei (PVAP) in eine Krise. Dem Gebot Chruschtschows, die innenpolitischen Zwänge abzubauen, politische Häftlinge zu amnestieren und eine konsumorientierte Wirtschaftspolitik zu verfolgen, kam der neue Erste Sekretär Ochab zwar nach; er wurde aber am 22. Juni 1956 von einem Streik Posener Arbeiter überrascht, der durch einen Einsatz der Armee, der 48 Todesopfer kostete, niedergeschlagen wurde. Unter Druck der Öffentlichkeit mussten trotz des Widerstands einer altstalinistischen Fraktion Anfang August die 1948/49 entmachteten »Nationalkommunisten« um Władysław Gomułka (1905 bis 82), denen allein eine Konsolidierung der aufgewühlten Stimmung im Lande zugetraut wurde, rehabilitiert und in die PVAP aufgenommen werden.
 
Die Wahl Gomułkas zum Ersten Sekretär am 19. Oktober und die Entmachtung der an den Schaltstellen von Verwaltung, Armee und Partei tätigen sowjetischen Berater versuchte Chruschtschow bei einem Blitzbesuch in Polen am 20. Oktober zu verhindern, er musste aber dem Machtwechsel und dem damit verbundenen Programm, den Sozialismus nach nationalpolnischen Gesichtspunkten aufzubauen, zustimmen. Da eine überzeugende personelle Alternative zu Gomułka fehlte, große Sympathiekundgebungen für die neue Führung die antisowjetische Grundstimmung in Polen aufzeigten und der Aufstand in Ungarn größere Risiken beinhaltete, lenkte die Kremlführung ein.
 
Gomułka versprach eine Reform der Planwirtschaft, die Erweiterung der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben, die Aufhebung der Zwangskollektivierung und die Wiederzulassung der privaten Landwirtschaft, größere Rechte für das Parlament (den Sejm) sowie eine liberalere Kultur- und Kirchenpolitik (Freilassung inhaftierter Geistlicher mit Primas Kardinal Wyszyński an der Spitze, Wiedereinführung des Religionsunterrichts an Schulen). Viele dieser Ansätze wurden aber rasch verwässert, da es Gomułka trotz seiner beträchtlichen Popularität nicht gelang, die rivalisierenden Flügel innerhalb der PVAP zu versöhnen und einheitliche ideologische Richtlinien durchzusetzen. Zudem durfte Gomułkas Programm gemäßigter innenpolitischer Reformen nicht die Führungsrolle der UdSSR, Polens Zugehörigkeit zum »sozialistischen Lager« und das Machtmonopol der Kommunisten infrage stellen.
 
So haben die nach dem Polnischen Oktober praktizierten Doktrinen die einstige ideologische und institutionelle Gleichförmigkeit im sowjetischen Hegemonialbereich zwar gesprengt, ohne dass es aber zur Ausbildung einer neuen Art von Kommunismus gekommen wäre, in der innere Liberalität und äußeres Unabhängigkeitsstreben unter dem Banner des Nationalkommunismus eine Symbiose hätten eingehen können.

Universal-Lexikon. 2012.

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